With your feet in the air and your head on the ground
Try this trick and spin it, yeah
Your head will collapse
If there’s nothing in it
And you’ll ask yourself
Where is my mind

Pixies – Where Is My Mind (1988)

 

Konstantin Butz

Where is my mind?

Es ist seltsam. Immer wenn ich eine Diskokugel sehe, erklingt in meinem Kopf dieser eine wirklich große Song von den Pixies: »Where is my mind«. Das ist auch heute noch so; viele Jahre nachdem ich das Lied zum allerersten Mal in einem Jugendzentrum in Bielefeld gehört habe.

Damals bin ich ungefähr sechzehn Jahre alt. Berauscht, nicht nur von den ersten wackeligen Gehversuchen innerhalb dessen, was man deskriptiv als Subkultur und mit Blick auf die Beteiligten zumindest als Jugendkultur bezeichnen könnte, sondern auch und vor allen Dingen von der sich dabei langsam einstellenden Gewissheit, dass dort draußen, hinter den kahlen Mauern dieses Raumes, hinter den Grenzen dieser Stadt und hinter den so eindringlichen Tönen dieses Songs ein Leben warten könnte, dessen existentielle Tiefe sich nicht am Maßstab der ostwestfälischen Provinz ausloten lassen würde. Eine stille Ahnung, eine Art unspezizierbarer Vorfreude prägt diesen Moment. Beleuchtet wird er vom Schein hunderter kleiner Lichtpunkte, die, von der Diskokugel reflektiert, durch den Raum wandern.

Sie überfordern und beruhigen zugleich: Der Blick bleibt an einem Punkt hängen und versucht ihm zu folgen, bevor er sich in der Kreisbewegung verliert und bei einem anderen Punkt ansetzen muss, um mit der Beobachtung fortfahren zu kön- nen. Nichts bietet Halt. Alles fließt. Und ich stehe mittendrin. In diesem Moment möchte ich nirgendwo anders sein. Ich bin genau richtig hier und denke mit völliger Hingabe ganz einfach: gar nichts.

Komprimiert lässt sich die damalige Situation mit einem Adjektiv zusammenfassen, das nicht nur der Charakterisierung des jugendlichen Gefühlszustandes im Schein der Diskokugel dient, sondern gleichzeitig auch implizit die Thematik des Pixies-Songs aufnimmt und auf einen Begriff bringt: gedankenverloren.

Christina Kramers Arbeit Manchester, 2015 zeigt eine Diskokugel. Als ich den Siebdruck zum ersten Mal betrachte, schwingt eben jenes Moment von Gedankenverlorenheit mit, das sich so schwer – und wenn überhaupt nur retrospektiv – mit Worten beschreiben lässt. Das Bild berührt mich.

Roland Barthes hat für diese Art der Berührung ein begriffliches Instrumentarium eingeführt, das sich zur Annäherung an meine Begegnung mit der Kunst von Christina Kramer heranziehen lässt. Barthes’ Ausführungen zu dem, was er studium und punctum nennt, bilden nicht nur ein nützliches Vokabular, um über den berührenden Moment nachzudenken, der sich für mich als Betrachter von Manchester einstellt, sondern ermöglichen auch Verweise auf die Arbeitsmethode, die Christina Kramers Kunstwerken zugrunde liegt. Was Barthes unter studium subsumiert, betrifft die „konventionelle Information“, die von einer Fotografie vermittelt und durch „das vernunftbegabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert“ wird.

Er macht darin eine Art „menschlichen Interesses“ aus, „eine Art allgemeiner Beteiligung, be issen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit“, der gegenüber er das punctum verortet.

„Dieses zweite Element“, so Barthes, „durchbricht (oder skandiert) das studium“: „Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewusstsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.“

Barthes präzisiert und fährt fort:

“Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen, denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).”

Wenn ich Manchester betrachte, glaube ich zu erahnen, was Barthes mit der Beschreibung eines Pfeils und dessen Ausbruch aus einem bestimmten Zusammenhang meint. In meinem Fall entspringt der Pfeil einem re ektierten Lichtstrahl, der zwar in der Bewegungslosigkeit des Siebdrucks eingefroren und damit nur angedeutet bleibt, mich persönlich jedoch trotzdem trifft und dadurch berührt. Unter der Informationsebene, die mir bewusst werden lässt, dass hier eine angestrahlte Diskokugel abgebildet ist, verstecken sich offensichtlich Elemente, die mich durch ihre unvermittelte Heftigkeit aus dem Gleichgewicht bringen und die bloß interessierte Betrachtung übersteigen. Der Punkt, an dem ich hier getroffen oder berührt werde, lässt sich rational nicht greifen. Ich kann ihn gerade nicht durch Reartikulation von vernünftigen Gedanken fassbar machen, weil er eben von vorneherein gedankenverloren ist.

Interessant ist dabei, dass sich diese Wirkung auch ganz materiell auf der Ebene der künstlerischen Umsetzung abbildet und damit Barthes’ Überlegungen auf den Arbeitsprozess übertragbar macht, der dem Werk zugrunde liegt. Christina Kramers Anwendung des Siebdruckverfahrens beinhaltet nämlich auch eine intentionale Auseinandersetzung mit sowie die Inkaufnahme von dabei entstehenden Ungenauigkeiten, kleinen Fehlern und nicht kalkulierbaren Druckergebnissen. Die Künstlerin schätzt diese Eigenschaften des Siebdrucks und betrachtet sie als wichtige, haptische Qualitäten ihrer Werke. Die Zufälligkeit, von der Barthes spricht und die damit verbundene Entstehung von Stichen, kleinen Löchern, kleinen Flecken und kleinen Schnitten ndet dabei im Material der schichtenweise aufgetragenen Farbe eine Entsprechung und verleiht hier so den Attributen eines punctum eine weitere, eine materielle Dimension. Dies gilt ebenso für die Werke wait wait wait wait, 2015 und 15 steps, 2015 , die einen auf dem Boden liegenden Schlauch und eine Rauchwolke abbilden. Auch bei diesen Siebdrucken ist die Existenz von Ungenauigkeiten Teil des Werkes, was besonders durch Verschiebungen und Überlagerungen deutlich wird, die sich dadurch ergeben, dass sich die Bilder jeweils aus vier zusammengesetzten Teilen konstituieren. Die entstehenden ‚Nahtstellen’ zeugen dabei vom Entstehungsprozess der Kunstwerke und verdeutlichen, dass es Christina Kramer hier nicht um größtmögliche Präzision geht, sondern sie den Eigenschaften des Materials und dessen Verarbeitung Rechnung trägt. Um es noch einmal mit Barthes zu sagen: Das Zufällige, also der „Wurf der Würfel“, bleibt den Siebdrucken in Form unvorhersehbarer Elemente, ungeplanter Verschiebungen und nicht-kalkulierbarer Fehler eingeschrieben und sorgt dafür, dass ihre Materialität niemals hinter eine rein semantische Ebene des Abgebildeten zurücktritt. Der Druck Oben sind hunderte aus dem Jahr 2007 zeigt die Beleuchtungssituation an einer Raumdecke, die sich – genau wie die Diskokugel – in einem Club oder in einer Konzerthalle be nden könnte. Sehr passend dazu bildet der Siebdruck Fade, 2007 gestapelte Lautsprecherboxen und Verstärker ab, die sich auf einer zum Teil in Kunstnebel verhüllten Bühne be nden. Musik und die persönlichen Erfahrungen, die sich darum drehen, spielen bei diesen Werken offensichtlich nicht nur eine ober ächliche Rolle. Vielleicht transportieren die Bilder gerade deshalb eine Stimmung, die auch mir den Zugang über eigene biografische und musikalische Assoziationen eröffnet, ohne dabei jedoch mit eindeutigen Ansatzpunkten konkrete thematische Vorgaben zu machen. Vielmehr werden hier Räume für assoziative und affektive Momente der Betrachtung kreiert, so dass die Siebdrucke sehr offen und zugänglich für ihre Rezipientinnen und Rezipienten bleiben. Die materielle Umsetzung und die Unregelmäßigkeiten und Fehlerhaftigkeiten der Siebdruckmethode öffnen sie für Zusammenhänge, die sich nicht darin erschöpfen, klar zu deutende Signi kanten auszustellen, sondern sich vielmehr dadurch auszeichnen, dass sie atmosphärische Situationen schaffen, in denen Inhalt, Form und Materialität eine gleichberechtigte Werkkomposition bilden. Bei den installativeren Arbeiten von Christina Kramer setzt sich dieser Ansatz fort. Nehmen wir zum Beispiel die 2017 entstandene Arbeit Von Dissidenten und Draufgängern . Der Titel evoziert Assoziationen, die den Kosmos von Pop, von Jugendkultur und von Protestbewegung streifen und diese dann einem Werk gegenüberstellen, das darauf verzichtet, diese Thematiken auf visueller Eben explizit aufzugreifen. Die Installation ist mit 330 x 210 x 100 cm eine der größten Arbeiten von Christina Kramer. Sie besteht aus Folien, auf denen mit Druckfarbe schwarze Linien aufgebracht sind. Mit Rundstahlstangen sind die Folien so an der Wand befestigt, dass sich verschiedene Ebenen ergeben und, je nach Betrachtungsperspektive, immer neue Muster entstehen, in denen sich die gedruckten Linien überkreuzen. Die Dreidimensionalität, die bei den bereits beschriebenen Siebdrucken durch das Auftragen verschiedener Farbschichten als zusätzliche Qualität die Werke prägt, bestimmt nun bei Von Dissidenten und Draufgängern das gesamte Setting und konfrontiert die Betrachtenden mit einer ganz unmittelbaren Räumlichkeit. Die eigene Position zum Werk muss ständig austariert werden, weil sich kein offensichtlicher Standpunkt aufdrängt und somit auch keine Perspektive endgültig sein kann. Die Auseinandersetzung mit Räumlichkeit und Perspektivenverschiebung kennzeichnet auch zahlreiche andere Werke von Christina Kramer, die sich ebenfalls aus Folien oder Acrylglasplatten und Druckfarbe zu Installationen mit mehreren Ebenen formieren und durch unterschiedlich perspektivierte Ansichten wandelbare Linienmuster entstehen lassen. Sie zeugen davon, inwiefern die Künstlerin in ihren Arbeiten Situationen antizipiert, welche die Betrachtenden in einen stets individuell zu gestaltenden Begegnungs- und auch Bewegungsmodus involvieren, der die eigene Position als integralen Bestandteil des Kunstwerkes mitdenkt. Die Relationen, in denen die Linien zueinander stehen, ergeben sich durch die Perspektive der Betrachtenden: Deren eigene Bewegungen und Sichtweisen bestimmen die Erscheinungsform der Werke mit. Die Titel der Installationen greifen dabei zum Teil die bereits skizzierten Bedeutungskontexte auf. Die Folieninstallation Ballad of losing control, 2015 integriert beispielsweise in ihrer Betitelung noch einmal die genannten Bezüge zur Musik, während sie gleichzeitig einen Kontrollverlust thematisiert, der sich wiederum in der offenen Herangehensweise spiegelt, die nicht nur dieses Werk von Christina Kramer zulässt. Die Künstlerin gibt quasi die strikte Kontrolle über ihre ausgestellten Kunstwerke auf, indem sie eine unendliche Zahl von Perspektiven darauf erlaubt, die sich durch jede betrachtende Person und deren jeweilige Position vervielfacht. Dadurch erhält sie den Moment des Zufalls in ihren Installationen aufrecht und bringt jeden Versuch, sich auf einen festgelegten und stabilen Betrachtungsoder gar Deutungsstandpunkt zurückzuziehen, aus dem Gleichgewicht. Prozesshaft führt Christina Kramer vor, dass es in ihrer Kunst letzten Endes immer auch um eine Suchbewegung geht, die sich nicht in der Endgültigkeit eines vermeintlich fertigen oder perfekten Werkes erschöpft, sondern immer auch etwas Vages, etwas Unbekanntes und Unvorhersehbares antizipiert. Der Titel Ballad of losing control fasst die damit einhergehende Arbeitsweise hervorragend zusammen. Er impliziert ein Spannungsfeld, das sich zwischen einer fest gerahmten Kunstform, in diesem Fall bezeichnet durch die Ballade, und dem gleichzeitigen Verlust von Kontrolle entfalten kann. Darin spiegeln sich diejenigen Aspekte, die für Christina Kramers Kunst wichtig sind: Die Arbeit mit Siebdruck und räumlichen Installationen setzt eine gewisse Präzision voraus, die dann aber nicht durch pedantisches Streben nach Perfektion in die Stagnation führt, sondern durch Momente der Intuition und durch in Kauf genommene Augenblicke des Zufalls und des Fehlerhaften immer für eine spürbare Offenheit und vielleicht sogar Ungewissheit sorgt. Auf der Suche nach Unbekanntem scheint Christina Kramers Kunst eine Art Sprache zu entwickeln, die zwar von semantischen Impulsen getragen wird, sich aber keiner festgelegten Grammatik unterwirft. Auch wenn die Titel von Kramers Werken immer wieder Bedeutungsanker in einem Ozean freier Assoziation zu bilden scheinen, geben sie niemals eine in sich geschlossene Bedeutungsstruktur vor; sie sind in diesem Sinne alles andere als hermetisch. Vielmehr öffnen sie sich auf materieller Ebene für eine nahezu körperliche Begegnung mit den Werken, die im Moment der Betrachtung immer wieder davon pro tiert, sich gedankenverloren deren materieller Präsenz auszusetzen. Dass der Titel des Werkes Ballad of losing control eine unwahrscheinlich treffende Beschreibung für den Song der Pixies darstellt, der mir den Einstieg zu diesem Text geliefert hat, mag dem Zufall geschuldet sein. Die Offenheit, mit der die Kunstwerke Christina Kramers ihren Rezipientinnen und Rezipienten begegnen, erlaubt es mir aber, darin einen willkommenen Brückenschlag auszumachen, der mich noch einmal zurück zu dem Moment führt, in dem ich, in den Schein einer Diskokugel getaucht, einem Lied lausche, das den Verlust von Kontrolle zum Thema hat: „With your feet in the air and your head on the ground“. Ich habe versucht, diesen Moment als gedankenverloren zu charakterisieren. Dass ich damit ein Adjektiv bemüht habe, mit dem ich einen Zugang zu der Kunst von Christina Kramer beschreiben kann, bleibt letzten Endes meinen persönlichen und individuellen Wahrnehmungen und Assoziationen geschuldet. Allerdings erweist es sich in diesem Zusammenhang als ausgesprochen passend, dass die Künstlerin eine Serie von Folieninstallationen mit den Worten Thoughts Fall, 2008 – 2011 (S. 79, 53) betitelt. Es scheint, als würde das Gedankenverlorene, über das ich hier nachgedacht habe, sich explizit in diesem Titel widerspiegeln oder zumindest prozesshaft zwischen den schwarzen Linien und Leitungen mitschwingen, die in den zugehörigen Installationen für stets wandlungsfähige Zwischenräume sorgen. Thoughts Fall impliziert die Frage: Was bleibt eigentlich zurück, wenn Gedanken fallen? Mögliche Antwort: Ein Moment, in dem kurzzeitig alle Gedanken verloren sind, ein Augenblick in dem sich vorübergehend keine Gedanken mehr greifen lassen und der dadurch fast unweigerlich in der Frage münden muss: Where is my mind?

Publikation: Christina Kramer Points, Lines, Planes
2019, mit Texten von Konstantin Butz, Cornelia Kratz, Stefan Niklas, Britta Tewordt
 
Christina Kramer