Konstantin Butz | Corinna Kühn

Die Wörter ruinieren, was man denkt 1

Bewegung als Präsenz

Ein Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges: In einer scheinbar unendlichen Fließbewegung geraten die Oberleitungen in Schwingung, sie kreuzen sich oder laufen nebeneinander her….

Dieses Phänomen kennt jeder Reisende. Das Bewegungsspiel der Leitungen regt dazu an, Gedanken nachzuhängen und sich in assoziativer Kontemplation zu verlieren. Versuchen wir im Nachhinein diese Erfahrung zu rekonstruieren, fällt es schwer sich auf konkrete Inhalte oder Bilder rückzubesinnen. Was bleibt, ist die Erinnerung an Bewegung.

Im Medium der Installation hat die Künstlerin Christina Kramer eine Möglichkeit gefunden, dieser Erinnerung Ausdruck zu verleihen, sie zu transformieren und etwas Neues entstehen zu lassen. Das Werk ‘Wenn jemand nach mir fragt: Ich bin auf der Flucht’ ist dafür exemplarisch:

In einem Raum hängen fünf große transparente Acrylglasplatten. Sie schweben einige Millimeter über dem Boden. Mit schwarzem Klebeband sind Linien darauf angebracht, die zu einer auf der Wand aufgeklebten längeren Linie, sowie zu einem ebenfalls an der Wand befestigten Siebdruck in Beziehung stehen. Die schwarzen Linien können als abstrahierte Oberleitungen gesehen werden. In anderen Installationen greift die Künstlerin tatsächlich auf fotografische Reproduktionen solcher Leitungen zurück. Je nach Standpunkt der Betrachter ändert sich die Beziehung der Linien zueinander. Geht man um die versetzt hintereinander angeordneten Platten von Wenn jemand nach mir fragt… herum, beginnen die Linien sich zu verschieben. Der Siebdruck an der Wand verhält sich dazu eher als statischer Fixpunkt, obwohl das „schwarze Rauschen“, das die vielschichtige Siebdrucktechnik auf dem Papier hervorbringt, durch seine diffuse Struktur ein weiteres dynamisches Moment in die Installation einführt. Die Offenheit der Installation schafft ephemere Momente ästhetischer Erfahrung, die sich aus der Bewegung der jeweiligen Rezipienten generieren: Das Verändern der eigenen Position und die sich dadurch stetig wandelnden Blickwinkel erzeugen immer neue Flächen- und Tiefenansichten. Die Installation verweigert sich so einer sie festlegenden Interpretation und stellt das Beziehungsspiel zwischen Betrachtern und Material in den Vordergrund.

Der Stellenwert des Materials wird auch in dem Siebdruck Fade (2007) deutlich, der erneut die Frage nach den Relationen zwischen Flächen und Tiefen aufgreift. Der Druck beruht auf der Fotografie einer Bühnensituation mit einer Lautsprecherbox im Vordergrund. Durch verschiedene übereinander gedruckte Farbschichten entstehen starke Kontraste: Tiefschwarze Flächen stehen neben weißen und gänzlich unbearbeiteten Teilen des Bildes. Kramer interessiert hierbei das Erzeugen unterschiedlicher Dichten. Einzelne Teile des Druckes treten durch Schichtung wie plastisch hervor, andere ziehen sich in Graustufen zurück und lassen die Box dreidimensional präsent werden. Im Vordergrund steht dabei nicht die Erzeugung eines haptischen Effektes, sondern die technischen Möglichkeiten auszuloten und Formen hervorzubringen. Das Verfahren des Siebdrucks beinhaltet Momente der Unvorhersehbarkeit und des Zufalls. Was im Druckhandwerk als Fehldruck bezeichnet werden würde – nämlich winzige Verschiebungen oder Unregelmäßigkeiten in der Farbdichte – macht für Kramer gerade den Reiz dieser Technik aus. Kleine Abweichungen, die den Untergrund hervorblitzen lassen, konstituieren hier materielle Spuren von Bewegung, welche sich durch das gesamte Oeuvre der Künstlerin ziehen.

Ihre Ausstellung in der A.R.T.e.s.-Galerie nennt Christina Kramer Präposition. Der Titel deutet darauf hin, dass sich die Betrachter ihrer Kunstwerke immer auf dem Weg zu einer Position – also davor – befinden. Sobald sie eine feste Position einnehmen, wird der Bewegungsprozess angehalten. Die Installation erschließt sich in ihrem Aufbau, die Beziehungsgefüge werden sichtbar und die Anordnung der verschiedenen Elemente deutlich. Begeben sich die Betrachter auf die Suche nach der nächsten Position, löst sich die Struktur wieder auf und sie befinden sich erneut im Davor, in einer Prä-Position.

‘Die Wörter ruinieren was man denkt’ (2006). Dieser Titel eines früheren Siebdrucks von Christina Kramer – angelehnt an ein Zitat aus dem Roman Das Kalkwerk des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard – wirft Fragen auf, die vielen ihrer Arbeiten zugrunde liegen: Was können wir überhaupt mit Wörtern ausdrücken? Wann geraten sie an ihre Grenzen? Wo liegen diese Grenzen? In ihrem künstlerischen Schaffen erforscht Kramer Räume, in denen Denkprozesse nicht zwangsläufig an Wörter gekoppelt sind, sondern fernab von interpretativen und semantischen Zuschreibungen eine Sehnsucht nach unmittelbarer Erfahrung ausdrücken – eine „Sehnsucht nach Präsenz“.2


  1. “Die Wörter ruinieren, was man denkt” aus Bernhard, Thomas. Das Kalkwerk. Frankfurt a. M. 1973 [EA 1970]. S. 115 ↩︎

  2. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Productions of Presence – What Meaning Cannot Convey. Stanford 2004. ↩︎

Ausstellung: Präposition
5.11.2010- 15.1.2011, A.R.T.e.s. Galerie / a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Köln
Publikation: Christina Kramer Präposition
2010, mit Texten von Andreas Speer, Corinna Kühn, Konstantin Butz, Cornelia Kratz, Britta Tewordt, Constanze Zürn
 
Christina Kramer