Das Denken kann sich als Taumel und Überstürzung artikulieren.
Es lässt sich auf eine Bewegung ein, die das Subjekt aus sich heraus zu Neuem führt.
Zu seiner Ungesichertheit gehört, Experimente zu riskieren,
deren Verlauf und Ergebnis offen bleiben. […]
Zum Denken gehört seine Öffnung auf’s Nicht-Wissen.1

(Marcus Steinweg)

Cornelia Kratz | Britta Tewordt

Punkte, Linien, Flächen

Eine schwarze Fläche wird aufgebrochen von zahllosen weißen, vielförmigen Punkten; größere und hellere in der unteren Bildhälfte, nach oben hin kleinere; manchmal liegen die Punkte dichter beieinander, manchmal vereinzelter. Bei der Betrachtung aus nächster Nähe scheint sich zwischen den Punkten elektrische Ladung freizusetzen; ein Blitzen, Leuchten, Flirren und Knistern ist zu sehen, eine Spannung, die sich unmittelbar auf die Betrachtenden überträgt. Treten diese nun wieder einen Schritt zurück, scheinen sich auf der schwarzen Fläche Gebilde zu formieren. Sind dies Anhäufungen von Mikroorganismen, die durch ein Mikroskop vergrößert werden oder weitentfernte Sternenhaufen im All? Mit dieser Ambivalenz aus Nähe und Ferne scheint das Bild zu spielen und so eine Tiefe zu erzeugen, die uns hineinzieht. Auch der Titel der Arbeit, Into, 2010 , scheint dies zu implizieren, drückt das Wort doch im Sprachgebrauch sowohl eine Bewegung, ein „Hinein“, oder eine Veränderung, „in etwas Anderes“, als auch Enthusiasmus für etwas aus.

„Der Punkt ist eine kleine Welt“2, schreibt Kandinsky in seinem „Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente“. Jede dieser kleinen Welten in Christina Kramers 85 x 60 cm messenden Siebdruck scheint uns in ihren Bann ziehen zu wollen, fordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, um sie gleich wieder zu verlieren. Denn erst in ihrer Häufung, im Mit- und Gegeneinander, Über-, Neben- und Untereinander entsteht ein „Sturm von Klängen“3. Von dieser Komposition geht eine faszinierende Sogwirkung aus.

Sogleich drängt sich der Begriff der Immersion auf, der nicht nur in der Astronomie und Mikroskopie Verwendung findet, sondern auch einen perzeptiven Vorgang beschreibt, ein „Eintauchen“ in eine künstliche Welt: „Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit“.4 Anders als in der virtuellen Realität, in der wir uns in Geschichten, Situationen und Aktionen verlieren, konfrontiert uns Kramer hier eher mit einer ästhetischen Erfahrung, die etwas nicht Greifbares, Ungewisses birgt, mit einem spannungsgeladenen Rauschen5, das unsere Sinne umfängt. „Into“ – wieder wird die komplexe und untrennbare Verbindung von Titel und Arbeit deutlich, die uns einerseits in emblematischer Manier einen Hinweis auf die Bedeutung der Arbeit, auf des „Rätsels Lösung“ zu geben scheint, uns andererseits in ihrer vielschichtigen und poetischen Uneindeutigkeit fragend zurücklässt. „Es geht […] nicht um eindeutige Kategorien wie Ja oder Nein, schwarz oder weiß. Für jedes scheinbar klare Ja gibt es eine Frage, ein Aber.“6

Mit dem künstlerischen Verfahren der Serigrafie experimentiert Kramer schon seit ihrer Zeit an der Kunstakademie Düsseldorf. Geradezu analytisch lotet sie die Möglichkeiten dieser Technik aus. Bewusst gesetzt und durchdacht sind ihre Kompositionen, denen nichtsdestotrotz ein Moment des Zufalls inhärent ist. Was aus druckhandwerklicher Perspektive als Fehldruck bezeichnet wird, lässt Kramer zu, scheint kleine Fehlstellen, Verschiebungen und Unregelmäßigkeiten im Farbauftrag gar zu provozieren. Der Zufall, das Imperfekte, der Störfaktor sind entscheidende Elemente ihres künstlerischen Schaffensprozesses. Bewusst spielt die Künstlerin mit diesem Moment des Ungeplanten oder Überraschenden, das die Arbeit verändert, und das später die Betrachtenden affizieren wird.

Dies zeigt sich etwa in der Monotypie Standbild, 2018 7 und dem Hochdruck Mental Shortcuts, 2018 . Bedingt durch das künstlerische Verfahren, das sich im Zusammenspiel von Absicht und Zufall entwickelt, entfaltet sich hier jedoch eine eher malerische, diffuse Wirkung, die in Mental Shortcuts nahezu an Elsheimers Nachthimmel in seinem Gemälde der „Flucht nach Ägypten“ erinnert. Die Tiefe des Schwarz changiert stark und die Häufung der hellen „Punkte“ scheint in Standbild geradezu organische Formen zu entwickeln und in Mental Shortcuts am unteren Bildrand so Überhand zu nehmen, dass das Schwarz völlig verdrängt wird. Während sich in der ersten Arbeit ein Wabern und Sprudeln erkennen lässt, zeigt sich in der zweiten ein Leuchten und Funkeln – als geriete das Standbild in Bewegung, als bannte Mental Shortcuts unseren Blick und unsere Gedanken, als passierte gleich etwas – was jedoch? „Alles ist Perspektive, und es ist ungewiss, ob unsere Wahrnehmung uns nicht fortlaufend täuscht“8, konstatiert Christine Abbt in ihrem Aufsatz „Der ästhetische Reiz des Ungewissen“. Kramer konfrontiert die Betrachtenden auch in diesen beiden Arbeiten mit einem Moment der Spannung und Unbestimmtheit, der ihren Arbeiten seit ihrer Entstehung innewohnt.

Ein Moment höchster Gespanntheit ist auch dem Siebdruck Fade, 2007 inhärent. Verblassen, verklingen, vergehen, dunkel werden: Die Implikationen, die der englische Begriff birgt, schwingen hintergründig bei der Betrachtung der Arbeit mit. Eine Musikbox bzw. ein Boxen-Ensemble, wie es bei Konzerten zum Einsatz kommt, ist dort zu sehen; daneben, ganz links im Bild, mehrere Koffer und Kästen, in denen Instrumente und allerlei Zubehör verstaut werden kann. Über der dunklen, schwarzen Box, deren Konturen kaum zu erkennen sind, teilt eine helle Linie die Bildfläche. Links verschwimmt der Hintergrund; nur einige schmale, gerade, helle Linien drängen sich hervor. Demgegenüber ist rechts oben ein tiefschwarzes Dunkel zu erkennen, das nach unten hin in einem hellen, immer dichter werdenden Nebel verschwindet. Wo schließlich der Boden anfängt und der Nebel aufhört, ist nicht auszumachen. Der diffuse Hintergrund, der Nebel und die wuchtige Box in geschichtetem Schwarz bestimmen die Szenerie. Es entsteht der Eindruck, dass wir uns auf der Grenze zwischen Backstage und Bühne befinden. Ein Schritt nach links oder rechts scheint zu entscheiden, welche Rolle wir einnehmen: Treten wir in den Hintergrund oder sehen wir uns hinter dem Nebel den Blicken zahlreicher Zuschauer ausgesetzt? Die Anspannung ist geradezu greifbar. Und doch bleiben wir letztlich im Unklaren über den hier dargestellten Moment, der eine Ambivalenz zwischen einem Davor und Danach, einem Hintergründigen und Vordergründigen, einem scheinbar Sichtbaren und Undeutlichen darstellt, und die Betrachtenden wieder einmal mit einer gewissen Undefinierbarkeit und Ungewissheit in Berührung bringt. Zu keiner Zeit jedoch transportieren Kramers Arbeiten etwas Bedrohliches, sondern fordern die Betrachtenden zum aktiven Perspektivwechsel heraus. „Der Reiz des Ungewissen entspringt an den Grenzen zwischen Bereichen, die sich unserem Zugriff öffnen und solchen, die sich eines Zugriffs entziehen“, schreibt Christine Abbt und konkludiert: „Das kritische Denken [kann] auf die Möglichkeiten, die das Ungewisse portiert, nicht verzichten“9.

Wie bei der Arbeit Into verwendet die Künstlerin auch bei Fade eine fotografische Vorlage für ihren Siebdruck. Diese wird jedoch im künstlerischen Prozess soweit bearbeitet, dass, obwohl Fade weitaus gegenständlicher anmutet als Into, die Linien, winzigen Punktsetzungen des Nebels und flächigen Schichtungen des Schwarz die Komposition dominieren. Auch der Nebel, der sicherlich auf der dargestellten Bühne maschinell hergestellt wurde, erzeugt dieses Moment des Ungewissen, das ihm schon symbolisch immanent ist.

In der Folienarbeit In Peripherien (I), 2013 setzt die Künstlerin ebenfalls das Motiv des Nebels ein. Die mehrteilige Arbeit besteht aus vier mal zwei Folien, die mit etwas Abstand hintereinander auf langen Nägeln hängen. Ob es sich jedoch tatsächlich um Nebelschwaden oder vielmehr um Rauch oder wabernde Wolken handelt, die Kramer via Digitaldruck auf die Folien bannt, bleibt ungewiss. Die Flüchtigkeit der Formationen, die sich in jedem Augenblick ändern und wieder vergehen, strahlt trotz der vermeintlichen Leichtigkeit auch eine Dramatik aus, wie sie etwa in Turners entmaterialisierten Landschaften, in denen Nebel, Wolken und Gischt zu einer Einheit verschmelzen, zu finden ist. Was man nicht halten kann und was schwer zu begreifen ist – diese ephemeren Zustände fängt die Künstlerin gekonnt ein und löst damit einmal mehr ein nervöses Grundrauschen aus.

Neben den Siebdrucken bilden die Folienarbeiten seit ihrer kunstakademischen Ausbildung eine zweite Konstante in Kramers Œuvre, die unmittelbar mit dem Experimentierfeld der druckgrafischen Arbeiten verbunden ist. Auch ihre Installationen entwickelt Kramer durch das Experimentieren mit Materialien und Druckverfahren, so dass ihr Atelier zeitweise einem Versuchslabor gleicht, in dem sie Modelle von später großformatigen Werken entwirft. Der Künstlerin geht es auch hier nicht um Perfektion, vielmehr wird das Unvorhergesehene im Geplanten gesucht und evoziert. Langwierige Entstehungsphasen sind dabei keine Seltenheit, das Herantasten an neue Materialien, Verfahren und deren Zusammenwirken bedarf Zeit, doch genau diese spürt man beim Anblick ihrer Arbeiten, die nicht verkopft, sondern wohldurchdacht anmuten.

Wenn Kramer bei ihren Papierarbeiten einen illusorischen Tiefenraum durch das Überlagern mehrerer Druckschichten erzeugt, das Schwarz – fast schon in Velázquez’scher Intensität – mit jeder neuen Schicht dunkler, satter und strahlender wird (wie u.a. bei Fade, 2007 oder Streben, 2007 ), dann betritt sie mit ihren Installationen den tatsächlichen dreidimensionalen Raum. Dabei handelt es sich um Installationen aus Folien, die auf Stahlstangen, die aus der Wand ragen, befestigt sind, sowie um großformatige Arbeiten aus Acrylglas, die im Raum stehen und an Drahtseilen, die von der Decke hängen, fixiert werden. Den in der Größe variablen Arbeiten ist die Verwendung transparenter Flächen gemeinsam, die zumeist mit minimalistischen Linienformationen versehen sind. Die Verschiebung von Flächen und Kräften durch Überlagerung setzt komplexe Bezugssysteme frei, An-Sichten und Durch-Sichten entstehen, die den Raum zum formbaren Material der Skulptur in Ausweitung und Verdichtung, Anspannung und Modulation machen. Die vollständige oder partielle Überlagerung der Flächen bietet eine Mehransichtigkeit, die animiert und die ‚passiven’ Betrachtenden zu ‚aktiven’ Betrachtenden werden lässt. Im Prozess des Gehens erscheinen und verschwinden Ansichten, der Gehende begibt sich in eine Beziehung zu Raum, Zeit und Physiologie und stellt so mit jedem Schritt ein komplexes Netzwerk her, setzt die unterschiedlichen Orte in Relation zueinander und tritt in Interaktion mit dem Werk. Der menschliche Gang kann insofern auch als eine „Form taktiler Wahrnehmung“ bezeichnet werden.

Dass die Rezipienten erst durch ihre sinnliche und körperliche Präsenz des Gehens und Schauens das Kunstwerk in seiner Ganzheit hervorbringen, verdeutlicht auch der Titel der Arbeit Lange Wege, 2003 . Eben diese müssen zurückgelegt werden, um die Installation aus Folien, die jeweils an zwei aus der Wand ragenden Rundstäben aus Stahl in unterschiedlichen Abständen befestigt sind, zu umschreiten. Auf den versetzt angebrachten Folien sind horizontale Linienformationen zu erkennen, die an Oberleitungen erinnern. Je nach Blickwinkel überlappen sich die einzelnen Flächen und die Formationen gewinnen an Komplexität, da sie sich im Auge der Betrachtenden zusätzlich mit den horizontalen aus der Wand ragenden Rundstahlstäben kreuzen. Oberleitungen dienen bekanntlich zur Versorgung mit elektrischer Energie, doch statt Zügen setzt Kramer die Betrachtenden in Bewegung. Eine gewisse Spannung löst auch der Anblick der mehrteiligen Folienarbeit Von Dissidenten und Draufgängern aus dem Jahr 2017 aus. Die verflochtene Struktur der auf die einzelnen Folien gedruckten Linien erscheinen wie Versatzstücke eines sich in die Höhe windenden Funkturms und erinnern an eine Fotografie Moholy-Nagys: Funkturm, von unten gesehen (vor 1926). Der Blick wandert hier wie dort der Linien-Punkt-Konstruktion folgend nach oben und verliert sich im Ungewissen. Die weiße Wand als Träger der Installation eröffnet hier einen imaginären, maßlosen Raum und verstärkt die Schwindel erregende Wirkung. Die Illusion der schwebenden Linien sowie die gewollte Sichtbarkeit der Konstruktion bringen erneut die für Kramer so charakteristische Ambivalenz zum Vorschein, die letztlich auch das Uneindeutige und Ungewisse befördert.

Um das Erfassen von Raum, das Erkennen von Strukturen und um das Begreifen von Erscheinungen geht es auch bei der großformatigen Installation Unter Umständen. Eine Vermutung, 2013 . Die kurz über dem Boden schwebenden Acrylplatten, die jeweils 205 x 152 x 0,6 cm groß sind und mit Drahtseilen an der Decke befestigt sind, ermöglichen ein direktes und unmittelbares Erleben. Auf den transparenten Flächen sind schwarze Linien zu sehen, die wie Kabel anmuten und senkrecht von der Decke hängen. Eine fast tänzerische Leichtigkeit geht von ihnen aus, wenn sie sich verhaken, einander umwinden und umspielen. Das Auge beginnt Strukturen zu suchen, aber der Eindruck bleibt nicht eindeutig, die einmal gefundene Struktur zerfällt im weiteren Schauen, wird abgelöst und überwunden durch neue, sich ständig verschiebende Ordnungen. Das der Arbeit inhärente Verhandeln von In-Beziehung-Stehenden Flächen und Linien, Querverbindungen und Tiefenstrukturen, wird durch die Betrachtenden um eine Relation erweitert.

Die Arbeiten von Kramer eröffnen somit Momente der immersiven Partizipation, die Möglichkeit „in das Werk zu treten, in ihm aktiv zu werden und seine Pulsierung mit allen Sinnen zu erleben“. Aus dem scheinbar konkreten Formenvokabular von Punkten, Linien und Flächen entwickelt die Künstlerin eine eigene poetische, spannungsgeladene visuelle Sprache, die zwischen Eindeutigkeit und Unbestimmtheit oszilliert und eine Ästhetik des Ungewissen generiert.


  1. Steinweg, Marcus: Evidenzterror. Berlin 2015, S. 81. ↩︎

  2. Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche: ein Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente. München, 1928, S. 26. ↩︎

  3. Kandinsky (1928), S. 32. ↩︎

  4. Balázs, Béla: Zur Kunstphilosophie des Films (1938). In: F.-J. Albersmeier (Hg.): Theorie des Films. Stuttgart 1995, S. 204–226, hier S. 215. ↩︎

  5. Ein Rauschen evoziert auch die Arbeit Anna begins, 2012 , ein 160 x 120 cm messender Siebdruck auf Karton, der aus vielen nebeneinandergesetzten quadratischen Punkten besteht und an eine Art Störbild erinnert, das akustisch mit einem medialen Rauschen, einem sehr zeitgenössischen Phänomen, einherzugehen scheint. ↩︎

  6. Zitat Christopher Wool. In: Walther Rudolf: Was die Bilder nicht sind. Christopher-Wool-Ausstellung in Paris. 2. Juli 2012. Siehe http://www.taz.de/!5089980/ (Zugriff: 20.06.2018). ↩︎

  7. Sowie in den neuesten großformatigen Arbeiten der Siebdruck-Serie Standbild, 2019: Siehe Standbild (III) , und Standbild (V) und Standbild (VII) ↩︎

  8. Abbt, Christine: Der ästhetische Reiz des Ungewissen. In: Dies. & Diggelmann, Oliver (Hrsg.): Zweifelsfälle. Bern/Baden-Baden 2007, S. 47–64, hier S. 48. ↩︎

  9. Abbt (2007), S. 63. ↩︎

Publikation: Christina Kramer Points, Lines, Planes
2019, mit Texten von Konstantin Butz, Cornelia Kratz, Stefan Niklas, Britta Tewordt
 
Christina Kramer