[D]as Kunstwerk beschränkt sich niemals auf den gemalten, skulptierten oder erzählten Gegenstand; so wie man die Dinge nur auf dem Hintergrund der Welt wahrnimmt, so erscheinen die durch die Kunst dargestellten Gegenstände auf dem Hintergrund des Universums.

Jean-Paul Sartre 1

 

Konstantin Butz

Perspektiven und Hintergründe:

Zu Christina Kramers My Studio is a Universe

Im Zentrum von Christina Kramers Ausstellung im »Matjö: Raum für Kunst« steht das titelgebende Werk My Studio is a Universe, 2023. Es handelt sich um eine schwarz-weiß bedruckte Fototapete, auf der ein stark vergrößerter Ausschnitt von der Aufnahme einer rau und porös wirkenden Oberfläche abgebildet ist. Auch wenn für die großformatigen Ausmaße der Wandarbeit letztendlich auf ein digitales Druckverfahren zurückgegriffen wurde, hat die Künstlerin die zugrunde liegende Fotodatei so vorbereitet, wie sie es für ihre Siebdruckarbeiten tun würde: Für diese ist es notwendig, das Motiv ausschließlich auf der Basis von schwarzen und weißen Pixeln darzustellen. Dabei ist es charakteristisch für die Vorgehensweise von Christina Kramer, die Pixel so groß anzulegen, dass sie zwar von weitem markant ein Motiv erkennen lassen, dieses beim Herantreten jedoch in seinen Einzelteilen sichtbar wird und sich für die Betrachter*innen in einzelnen Bildpunkten auflöst.

Die anderen drei in der Ausstellung präsentierten Werke wurden tatsächlich im analogen Siebdruckverfahren angefertigt und sowohl bei der vierteiligen Bildserie Yes, 2022 als auch bei den beiden Bildern What Difference Do You Make? (2020) und Wait wait wait wait, 2015 fällt sofort auf, dass das jeweilige Motiv stets von einer Art visuellem Rauschen begleitet wird.

Diese Wirkung erzielt die Künstlerin durch eine eigens von ihr entwickelte Methode. Sie legt die Schichten, aus denen die Bilder aufgebaut sind, so an, dass sie sich nicht nur materiell überlagern, sondern auch optisch ergänzen und ein buntes Farbspektrum hervorbringen. In der Betrachtung ist es somit möglich, mehr Farbtöne wahrzunehmen als tatsächliche Farbschichten existieren.

Am deutlichsten und experimentellsten wirkt sich dieses Phänomen in den jüngsten Drucken der Yes-Serie aus. Sie zeigen exemplarisch, inwiefern Christina Kramers Vorgehen vor allem die materiellen Aspekte ihrer Werke in den Vordergrund rückt und die dabei entstehenden optischen Effekte antizipiert. Es wird deutlich, dass das Hauptaugenmerk bei den ausgestellten Arbeiten weniger auf der Qualität der jeweils motivgebenden Fotografien liegt, sondern es vielmehr auf die Kompositionen ankommt, die sich aus dem Zusammenspiel von Formen, Farbintensität und Farbmischung, Oberfläche, Material und Druckeigenschaften ergeben.

Wait wait wait wait, 2015 und What Difference Do You Make? lassen im Sinne eher gegenständlicher Fotografien zwar noch relativ gut erkennen, dass es sich bei den abgebildeten Objekten um auf dem Boden liegende, sich windende Schläuche handelt. Die dunklen Linien auf den Bildern der Serie Yes können hingegen nur durch einen entsprechenden Hinweis der Künstlerin als Rohrelemente eines Stuhlgestells identifiziert werden. Gemeinsam ist den Werken, dass die visuelle Ebene nicht dafür in Anspruch genommen wird, eine klar definierte Bedeutung zu vermitteln oder eine möglichst detailgetreue Abbildung zu kreieren.

Im Gegenteil: Es geht Christina Kramer vielmehr um Relation als um Repräsentation. Gleichgültig ob die abgebildeten Windungen noch als Teile eines Schlauches zu erkennen sind oder sich die Konturen eines fotografierten Stuhlgestells bereits in der Abstraktion linienförmiger Farbstreifen verdichten, bei den Werken liegt der Fokus auf dem Verhältnis, das Flächen und Striche zueinander entwickeln und das sich zwischen den jeweiligen Formen und Farbverläufen entfaltet.

Passend dazu spricht die Künstlerin hinsichtlich ihrer Fotografien von Zufallsmotiven, die auf ungeplanten Beobachtungen basieren. Ihr genügen eine Handykamera und der spontane Blick auf kontingente Anordnungen von Alltagsgegenständen, die sich in ihrem Atelier befinden, um die Grundlagen für die künstlerischen Recherchen zu schaffen, aus denen sich ihre Werke generieren. Dadurch, dass sie sich insbesondere für unterschiedliche Formen und deren jeweilige Relationen und Wirkungen im Medium des gedruckten Bildes interessiert, kann auch das unmittelbare Umfeld ihres Arbeitsplatzes mitsamt den dort befindlichen Gegenständen – wie zum Beispiel Schläuchen und Stühlen – als schier unerschöpfliches Experimentierfeld dienen, in dem sich überall ästhetische Qualitäten entdecken und erkunden lassen. Das eigene Atelier, das überhaupt erst die räumliche Voraussetzung für die Materialisierung künstlerischer Prozesse schafft, bleibt somit im Arbeitsablauf nicht auf das Setting eines rein funktional ausgerichteten Ortes reduziert, sondern schreibt sich über dort zufällig vorgefundene Situationen als motivstiftendes Element in die Kunst Christina Kramers ein.

Insofern können die in der Ausstellung präsentierten Arbeiten auch als Reflexion über oder gar als Hommage an das eigene Atelier und seine Eigenschaften als produktive Experimentierwerkstatt verstanden werden, was einen Hinweis darauf liefert, dass der Titel der Ausstellung nicht nur als bloße Überschrift zu lesen ist. Die Worte My Studio is a Universe scheinen durchaus programmatisch gemeint zu sein, denn sie sagen viel über den Entstehungsprozess der gezeigten Werke aus: Als gleichsam unendlicher Möglichkeitsraum generiert Christina Kramers Blick auf das eigene Atelier (also auf das eigene Studio) immer neue Perspektiven und damit auch immer neue Formen künstlerischen Ausdrucks. Ähnlich zu den Ungewissheiten, den Uneindeutigkeiten und der Unendlichkeit, die das Universe (also das Universum) charakterisieren, begegnet sie ihrem Atelier als grenzenlosem Raum, der sich nicht holistisch fassen oder abbilden lässt und stattdessen immer wieder aufs Neue den Ausgangspunkt für künstlerische Entdeckungsreisen liefert.

In Bezug auf die gleichnamige Wandarbeit wirkt sich der Titel My Studio is a Universe dabei auf subtile Weise suggestiv auf die Wahrnehmung der Rezipient:innen aus. Durch den expliziten Bezug zum Universum erscheint es naheliegend, die abgebildete Oberflächenstruktur wirklich mit einem Blick in den kosmischen Raum zu assoziieren und darin Ähnlichkeiten zu Bildern auszumachen, die von Fotografien aus dem Weltall und speziellen Weltraumteleskopen bekannt sind. In der Tat erinnert My Studio is a Universe aus der Nähe an Aufnahmen von der Oberfläche des Mondes und seinen Kraterlandschaften, während die Fototapete mit etwas Abstand betrachtet auch den Ausschnitt eines Sternenhimmels mit unzähligen Lichtpunkten darstellen könnte. Dass es sich bei dem abgebildeten Motiv um eine vergrößerte Aufsicht auf den Betonfußboden in Christina Kramers Atelier handelt, ist wieder nur durch eine entsprechende Information von der Künstlerin selbst zu erfahren, verdeutlicht aber das Vorgehen, das ihrem Schaffensprozess zugrunde liegt.

Auch wenn sie häufig durch ihre Werktitel zur Reflexion über mögliche Bedeutungszusammenhänge anregt, kommt es ihr eben nicht darauf an, mit eindeutiger Bildsprache eine für die Betrachter:innen sofort verständliche Aussage zu visualisieren, sondern sich insbesondere über den Grad der Relation einer ästhetischen Form anzunähern. In der Nahaufnahme, in der Vergrößerung und im Ausschnitt findet Christina Kramer Qualitäten, die ihr zunächst wichtiger erscheinen als ein festgelegter Referenzrahmen. Sie macht deutlich, dass sie sich immer schon von ästhetischem Potenzial umgeben wähnt und es häufig einfach einer Perspektivänderung bedarf, um dieses in künstlerischem Ausdruck und Kunst erfahrbar zu machen.

Im Falle von My Studio is a Universe ist eine solche Änderung der Perspektive gleich in zweierlei Hinsicht gegeben: Zum einen wird die spezifische Struktur des Betonbodens über die technisch vergrößerte Aufsicht in ihrer unregelmäßigen Porosität und der damit verbundenen Einzigartigkeit erst sichtbar und zum anderen sorgt die Präsentation der Abbildung als Fototapete dafür, dass der ursprünglich vertikale Kamerablick auf den Fußboden eine horizontale Ausrichtung auf die Wand erfährt. Dadurch, dass dort neben beziehungsweise auf dem Werk My Studio is a Universe zwei Bilder der Serie Yes angebracht und zu sehen sind, werden räumliche Kategorien wie Boden und Wand von ihren strengen Zuordnungen befreit und die definite Unterscheidung von Untergrund und Hintergrund in Frage gestellt. Was ursprünglich auf der Fotografie eines wortwörtlichen Untergrunds, nämlich des Atelierfußbodens basierte, dehnt sich nun als vertikale Wandarbeit in neuen Dimensionen aus und kann so gleichzeitig als Hintergrund dienen, vor dem Teile eines weiteren Kunstwerks in Erscheinung treten.

Kongruent zu den Kompositionen der gezeigten Werke veranschaulicht der Aufbau der Ausstellung auf diese Weise erneut, dass es die Beziehungen zwischen den gezeigten Bildelementen und ihre unendlich variierbaren Relationen sind, die hier über Bedeutungskontexte hinweg ästhetische Entfaltung finden. In diesem Sinne –oder besser gesagt: vor diesem Hintergrund – ermöglichen Christina Kramers Arbeiten bei aller Abstraktion tatsächlich einen konkreten Blick in ein ganzes Universum von Formen, Farben und Perspektiven.


  1. Sarte, Jean-Paul. Was ist Literatur? Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2018 [franz. Original 1948]. ↩︎

Ausstellung: My Studio Is A Universe
09.02.2023- 16.03.2023, Matjö, Köln
 
Christina Kramer